10 Dinge, die ich durch Südamerika gelernt habe (Part 1)

Meine Erfahrungen im Südamerika Austausch

 

Mit 14 Jahren durfte ich das erste Mal alleine die Sommerferien über nach Südamerika. Ich hätte mir zuvor niemals träumen lassen, dass ein kleiner Zettel am Schwarzen Brett meiner Schule, mein Leben dermaßen ändern würde. „Gastfamilie für ecuadorianische Austauschschüler“ gesucht hieß es darauf. Hätte meine Mutter ihn damals nicht entdeckt und mich davon überzeugt, wäre ich heute nicht die Person, die ich geworden bin.

Im Februar 2005 kam unser erster (von später insgesamt 5) Gastschüler aus Ecuador zu Besuch. Luigi war ein super netter und interessierter Schüler der deutschen Schule Guayaquil. Nachdem mein Gegenbesuch im Sommer 2005 mich von der grauen, schüchternen Maus innerhalb weniger Wochen zu einer lebensfrohen Halb-Latina verwandelt hatte, war ich vom „Südamerika Virus“ gepackt.

 

Ich mit sweet 16 im Aussteiger Dorf Montañita im August 2007 – der Start in ein lebensveränderndes Jahr!

 

Nach dem Sommer in Jahr 2005 stand schnell der Entschluss fest: Ich will nochmal rüber und diesmal gleich viel länger! Lange habe ich darauf hin gefiebert und so bin ich letztendlich im Juli 2007 als 16-Jährige ohne Spanisch Kenntnisse und ohne meine Familie nach Ecuador aufgebrochen. Da ich bereits meine Gastfamilie kannte, hatte es nicht lange gedauert Anschluss zu finden und vollkommen in dieser lebensbejahenden Kultur einzutauchen.

Die Sprache habe ich nebenher gelernt, nach 3 Monaten konnte ich schon viel verstehen, nach dem kompletten Jahr konnte ich mich auch problemlos mit jedem austauschen. Auch nach meinem Jahr Aufenthalt hatte ich noch eine 6 Jahre dauernde Beziehung mit einem Latino, wodurch nie der Kontakt nach Ecuador verloren ging.

All die Jahre haben mich geprägt und mich vieles gelehrt. Was ich alles von den Latinos und Latinas gelernt und verinnerlicht habe, möchte ich heute hier mit euch teilen. Los gehts mit meinen Erfahrungen im Südamerika Austausch:

 

  1. La Familia – wie man eine Familie zusammenhält
  2. Don’t worry, be happy! – Es lebe die Lebensfreude
  3. Spontanität – Freunde treffen? Klar, warum nicht gleich heute?
  4. Nichts für selbstverständlich halten
  5. Kontrolle provoziert Lügen

 

 

1. La Familia – wie man eine Familie zusammenhält

 

Es dürfte kein Geheimnis sein, dass Latinos mehr die Familienkontakte pflegen, als wir Westeuropäer. Wenn man jedoch erst einmal in eine lateinamerikanische Familie eingetaucht ist, dann merkt man erst einmal WIE stark der Unterschied ist.

 

Für Latinos ist die Familie der absolute Lebens-Mittelpunkt. In den meisten Familien ist es normal, mindestens einmal die Woche gemeinsam chic essen zu gehen – und damit ist die gesamte Familie gemeint. Jede Woche treffen sich Tanten, Großeltern, Eltern, Cousinen und Cousins etc. auf ein gemeinsames Essen. Etwas, das deutsche Familien höchstens ein paar Mal im Leben, zu Hochzeiten und Beerdigungen, hinbekommen und dann auch oft nicht wirklich genießen.

 

Das wichtigste in Lateinamerika: der Zusammenhalt in der Familie

 

Insbesondere die ländliche Bevölkerung kann über unsere Art der Familienführung nur den Kopf schütteln: zwei Vollverdiener Eltern mit 40-Stunden Job, Kita ab dem 12. Lebensmonat, Familienzeit nur wenige Stunden abends, 40 Jahre buckeln um ein paar Jahre Rente (falls körperlich noch fit genug) zu genießen und abschließend geht es für nicht wenige einsam ins Altersheim.

 

Anders in Südamerika bzw. allgemein ländlicheren/ärmeren/familienorientierten Ländern. Die Kinder werden vom ersten Tag in die Familie integriert und dürfen den Alltag der Erwachsenen miterleben, anstatt in eine Parallelwelt aus Kita, Kindergarten und Frühkindlicher Förderung abgeschoben zu werden.

 

Sie hängen in den Wickeltüchern ihrer Mütter, bekommen viel Liebe, Herzlichkeit und gemeinsame Zeit mit ihren Eltern, die trotzdem nebenher ihren Job nachgehen dürfen. Die Familie und gemeinsame Zeit hat dort einfach Vorrang vor fancy Jobs und Karrieren. Es ist kein Problem sein Kind bei der Arbeit auf dem Feld oder in einfachen Läden dabei zu haben und somit wirklich „Familie und Arbeit zu vereinen“.

 

Pisac HatsBesonders die ländliche Bevölkerung verbringt viel Zeit mit ihrem Kindern, auch während der „Arbeitszeit“ auf dem Feld oder beim Handwerken

 

Das mag dazu führen, dass die Menschen dort nicht die wirtschaftlich reichsten sind, dafür haben sie eine Familie auf die sie sich vom ersten bis zum Letzen Tag verlassen können. Überfüllte Kitas mit einer Betreuerin auf 15 Kinder und einsame Pflegeheime für das Warten auf den Tod – unvorstellbar für viele Latinos.

 

Jedes Familienmitglied bleibt ein wichtiger und integrierter Bestandteil der Familie, der vom Kindesalter bis zum Tod seine Aufgabe in der Familie erfüllt. Jeder hat seine Bestimmung in der Familie und fühlt sich gebraucht. Durch diese Auslastung und das „gebraucht werden“ bleiben die Menschen dort oft bis ins sehr hohe Alter körperlich und mental fit. (siehe z.B. Vilcambamba – das ecuadorianische Tal der 100-Jährigen)

 

Dieser Zusammenhalt in der Familie hat mich immer sehr gerührt und geprägt. Nach Ecuador gegangen bin ich als typisches zickiges Teenagermädchen, das auch gerne genervt ihrer Mutter die Tür vor der Nase zugeschlagen hat. Zurück gekommen bin ich nach einem Jahr als geerdete, junge Frau, die auf einmal ihre Familie sehr zu schätzen wusste und mit sehr viel mehr Respekt behandelte.

 

Zu Besuch bei einem Indianerdorf im Regenwald: große Familien, jeder packt mit an und es wird viel gelacht und getanzt

 

Dieses Familiengefühl Südamerikas ist wohl auch einer der größten Ausschlaggeber für den nächsten Punkt …Lebensfreude!

 

2. Don’t worry, be happy! – Es lebe die Lebensfreude

 

Latinos und Latinas sind weltweit bekannt und beliebt aufgrund ihrer überragenden Lebensfreude. Jeder Reisende wird in Südamerika davon in den Bann gerissen: gute Laune, lebensfrohe Musik, bunte Farben. Was sich anhört wie ein stereotyp ist und bleibt Realität.

 

Es gibt kaum etwas aus Ecuador, dass ich so sehr vermisse wie dieses positive Lebensgefühl. Besonders in meiner Heimat, dem Schwabenland, wo „nicht geschimpft, ist bereits genug gelobt“ gilt, merke ich immer wie stark sich „Lebensfreude“ in Deutschland von Lateinamerika unterscheidet.

 

Es ist bemerkenswert wie gerade auch die Ärmsten in Südamerika voller Lebensfreude strahlen

 

Ich finde es bemerkenswert, wie gut gelaunt und positiv die Menschen in Südamerika sind, selbst wenn sie oft finanziell gesehen am Existenzminimum leben. Sie haben eine sehr positive Lebenseinstellung, konzentrieren sich auf das was sie haben, anstatt sich darüber zu beklagen, was sie nicht haben.

 

Viele Menschen in Lateinamerika sind sehr gastfreundlich. Gerade diejenigen, die am wenigsten haben geben ihr letztes Hemd, um ein guter Gastgeber zu sein und freuen sich darüber, wenn man als Europäer ihnen die Ehre eines Besuchs erweist.

 

In Südamerika lernt man Leichtigkeit und Lebensfreude erst so richtig kennen.

 

Natürlich tragen warmes und sonniges Wetter einen Beitrag zu dieser Lebensfreude, aber auch als Deutscher kann man sich mit etwas Selbstdisziplin diese positive Lebensart zu Eigen machen.

 

Für mich gibt es auch heute noch, nichts Schöneres, als zu Salsa, Merengue und Reggaeton mit Hüftschwung zu tanzen und vollen Herzens mit zu singen. Das ist mein persönlicher „Gute Laune Schalter“ den ich in Ecuador kennen gelernt habe und zu Hause immer wieder betätige, wenn mir der langweilige deutsche Alltag zu triest wird.

 

Hier bin ich genau in meinem Element: Reggaeton, Merengue, Margaritas, bunte Farben, Menschen die auf der Straße tanzen und gute Laune – so sehen Parties in Ecuador aus!

 

Jedem dem hier die Decke auf den Kopf fällt und einer Depression nahe ist, lege ich somit ans Herz: Macht mal ein paar Wochen – besser Monate – Auszeit und geht mit unvoreingenommenem Herz und Verstand nach Lateinamerika. Ich kenne keinen, der von der Lebensfreude dort nicht wenigstens ein bisschen angesteckt wurde.

 

3. Spontanität – Freunde treffen? Klar, warum nicht gleich heute?

 

In Kinderzeiten war es für mich normal, dass meine Freude einfach an der Haustür klingelten und fragten „Ist Svenja da? Kann sie zum Spielen mitkommen?“. Zwei bis drei Jahrzehnte später machen selbst Grundschulkinder ihre Termine per WhatsApp aus. Wenn ich mich mit einigen meiner berufstätigen Freunde treffen möchte, muss ich teilweise die Termine 3 Monate im Voraus anmelden, damit sie dann oft kurzfristig doch wieder ausfallen oder weiter aufgeschoben werden.

 

In Lateinamerika ticken die Uhren anders…

 

Aber ich kann Entwarnung geben, nicht die ganze Welt ist bereits so. In Lateinamerika ticken die Uhren noch anders – im positiven, wie auch im negativen Sinne.

 

In meinem Jahr drüben und auf diversen Besuchen seit dem, ist mir aufgefallen wie „easy going“ Leute dort ihr Leben und ihre Termine unter einen Hut bekommen. Sich spontan treffen bedeutet dort nicht sich eine Woche im Voraus zu verabreden, sondern einen Anruf „Hey, hast du Bock dich zutreffen? Okay cool, ich bin in 5 Minuten da!“.

 

Einige die besten Abende sind so zustande gekommen. Viele bedeutende Menschen in meinem Leben habe ich nur kennen gelernt (z.B. meinen Schatz), weil ich spontan irgendwo mitgegangen bin, selbst wenn ich kurz vorher lieber faul daheim geblieben wäre.

 

Auch heute liebe ich es, wenn Leute in Deutschland so spontan sind und einfach mal vorbeischauen, anstatt sich von ihrem Kalender bevormunden zu lassen.

 

Ein spontanes Treffen mit großer Runde?! In Südamerika Alltag, in Deutschland oft unmöglich.

 

Die Spontanität gilt leider auch im negativen Sinne. Wenn man jemanden auf 18Uhr einlädt, muss man mit ihm nicht vor 19Uhr rechnen. Manchmal werden auch zwei Stunden Warten draus, oder ein „sorry ich komm doch nicht vorbei“, nachdem man schon ewig gewartet hat. Aber auch damit lernt man in Südamerika umzugehen. Ich habe gelernt die Unpünktlichkeit anderer nicht mehr allzu persönlich zu nehmen. Das ist zwar etwas schwierig für einen typischen, überpünktlichen Deutschen, aber Übung macht den Meister.

 

4. Nichts für selbstverständlich halten

 

Viele Menschen, die noch nie groß ihre Heimat verlassen haben, nehmen Dinge, Menschen und Gegebenheiten für selbstverständlich. Ein begrenzter Horizont macht jedoch unglücklich und nicht selten auch leicht asozial bzw. intolerant.

 

Reisen öffnet die Augen, man lernt von anderen Kulturen und vor allem lernt man seine eigene Kultur aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Was dies wirklich bedeutet, verstehen nur Menschen, die oft und lange genug reisen und offen durch die Welt gehen.

 

Eine Zeit im Ausland lehrt einem auch die kleinen Dinge zu schätzen.

 

Bevor ich mit dem Reisen angefangen habe war ich durchaus etwas verwöhnt und habe nie wirklich Dankbarkeit für mein Leben und seine Gegebenheiten empfunden. Spätestens nach dem Jahr in Ecuador hat sich einiges in meiner Weltanschauung geändert.

 

Dinge die ich für selbstverständlich gehalten habe, musste ich auf einmal schmerzlich vermissen: einen Rollladen vorm Fenster, Vollkornbrot, süße Speisen ohne Ameisen, kalter Regen, frische Luft, Sicherheitsgurte im Auto, pünktliche Menschen, Haustiere, Freizeitmöglichkeiten in der Natur, sein Liebesleben offen leben zu dürfen und vor allem meine Familie.

 

Ich habe gelernt für viele kleine und große Dinge in meinem Leben sehr dankbar zu sein. Anstatt meine Mutter anzuzicken, bin ich seit meinem Auslandsaufenthalt sehr dankbar für sie und freue mich über jeden Tag an dem ich sie sehe und ihr sagen kann wie lieb ich sie habe.

 

Ich habe viel Dankbarkeit für meine Heimat, Familie und Freunde gelehrt bekommen, indem ich auf sie ein jahr verzichten musste.

 

Mich über Kleinigkeiten beklagen? Auch das ist wesentlich weniger geworden, denn ich führe mir einfach kurz vor Augen wie es anderen Menschen geht und schon bin ich wieder dankbar für das, was ich habe.

 

Ein Aufenthalt in einem ärmlicheren Land, weit weg von seinen Liebsten öffnet einem die Augen für die Dinge, die wichtig sind und erfüllt einen nach und nach mit Dankbarkeit dafür, wie unglaublich gut es uns insbesondere in Deutschland geht.

 

Wenn du dich also mal wieder über die unpünktliche Bahn oder die anhänglichen Eltern beklagen solltest, erinnere dich kurz daran wie es wäre wenn deine Eltern wohl nicht mehr wären und anstatt der Bahn nur ein stundenlanger Fußweg als Transportmöglichkeit übrigbliebe.

 

Nichts für selbstverständlich halten und Dankbarkeit für sein Leben mit allseinen Umständen zu entwickeln bringt jeden einen enormen Schritt weiter zu einem glücklichen Leben.

 

5. Kontrolle provoziert Lügen – Je beschützter die Kinder, desto mehr brechen sie aus

 

Das stärkste Kontrastprogramm war für mich in Ecuador die Erziehung. Meine Eltern haben mir immer meine Freiheiten gelassen und darauf vertraut, dass ich keinen riesen Blödsinn anstelle. Es war für mich als 16-jährige normal abends weg zu gehen und einen Freund zu haben.

 

In Lateinamerika war das, zu mindestens damals, ein ganz anderes Thema. In meiner streng katholischen Gastfamilie und zudem in einem sehr religiösen Land wurde ich ganz anders beäugt. Küssen in der Öffentlichkeit, Partys bis in die Nacht – Dinge die ich mir nun vorher zweimal überlegen musste.

 

Von 0 auf 100: für mich ein krasser Kulturschok, nur stark religiöse Katholiken um mich herum zu haben

 

Nicht einmal männliche Klassenkameraden zu Besuchen waren angemessen, solange nicht ein Familienmitglied im gleichen Raum als „Anstands-Wau-Wau“ anwesend war. Kurz gesagt: so sehr ich meine Gastfamilie und das Land liebe, die ständige Kontrolle und Angst davor „etwas falsch zu machen“ hat mich tierisch genervt.

 

Nun müsste man denken, dass all diese katholischen Kinder dort unglaublich wohlerzogen und brav sind. Aber hier kommt die Lektion, die man sich auch für seinen eigenen Nachwuchs später einprägen sollte: „Regeln sind zum Brechen da. Kontrolle führt immer zum Ausbruch. Verbote führen immer zu Lügen und Wege diese Verbote zu umgehen. „

 

Khmer Christians Singing TogetherEin Doppelleben: Tagsüber in die Kirche gehen, beten, prüde Schuluniform, brav sein …

 

Viele der Jugendlichen, die ich dort drüben kennen gelernt habe, führten ein Doppelleben. In der Familie und Kirchengemeinde war man brav, gebildet und hat keinen Sex vor der Ehe geschworen.

 

Wenn man dann jedoch zu einem „gemütlichen Film und Spieleabend bei Freunden“ war, ging es für nicht wenige in ein abgewracktes Stundenhotel um sich mit seiner heimlichen Freundin zu treffen. Man ging auf Partys, schummelte sich in Discos, trank heimlich harten Alkohol und knackte daheim Türen um an die verbotene Spielekonsole oder den PC zu kommen.

 

Je strenger die Eltern waren, desto schlimmer haben sich ihre Kinder insgeheim ausgelebt und desto klüger waren ihre Ausreden und Lügen.

 

… abends hingegen weg gehen, kurze Röcke, hohe Absätze, „Drucks, Sex & Rock’nRoll“.

 

Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass Kontrolle immer nur das Gegenteil erzielt. Das einzige was einem als Elternteil übrig bleibt ist Vertrauen in seine Kinder zu haben und dieses Vertrauen auch auszustrahlen.

Kinder und Jugendliche müssen ihre eigenen Lebenserfahrungen machen um reife Erwachsene zu werden. Als Elternteil kann man bestenfalls so früh wie möglich eine vertrauensvolle und freie Basis bieten, so dass seine Kinder gar nicht erst das Gefühl bekommen, ihre Eltern hintergehen zu müssen. Erst dann vertrauen sich ihnen ihre Kinder auch freiwillig an, anstatt sich Lügen auszudenken.

 


 

Das wars mit Teil 1, weiter geht es demnächst in Teil 2 mit den Punkten sechs bis zehn.

Wart ihr auch bereits in Südamerika? Falls ja, lasst mich doch wissen, was ihr dort alles neues kennen gelernt habt 🙂

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